2009 gegründet, durchweht die Hochschule Rhein-Waal immer noch der Start-up-Geist. Hier erwarten einen gelebte Internationalität und ungewöhnliche Studiengänge.

Hochschulen, die auffallen

Bis heute ein Start-up

Manchmal ist es sehr befreiend, wenn man nicht auf irgenwelche Traditionen Rücksicht nehmen muss. Das gilt nicht nur für die Gründer von Start-ups, sondern auch für die Gründer von Hochschulen. In dieser glücklichen Situation waren die beiden Personen, die vor noch nicht allzu langer Zeit die Hochschule Rhein-Waal starteten.

Rhein-Waal? Den Rhein kennt man ja, doch was ist Waal? Nun, die Waal ist einer der beiden Mündungsarme des Rhein, die in die Nordsee fließen. Also geht es offenbar um eine Hochschule im Nordwesten Deutschlands, nahe der Grenze zu den Niederlanden. Um genau zu sein: Sie hat zwei Standorte namens Kleve und Kamp-Lintfort. Orte, die Ost- und Süddeutschen nicht unbedingt geläufig sein werden. Dafür vielen tausend Ausländern, die bis heute dort studiert haben. Und sie können sogar aus China und anderen asiatischen Ländern stammen.

Womit wir wieder bei den beiden Personen sind, die vor rund elf Jahren die Aufgabe hatten, eine neue Fachhochschule in Kleve zu gründen. Kamp-Lintfort kam ein paar Jahre später hinzu. Es waren die Professorin Marie-Louise Klotz und Martin Goch. Sie hatten nämlich die Idee, dass die „Fachhochschule Nördlicher Niederrhein“, wie sie anfangs hieß, etwas Besonderes sein sollte. Denn Hochschulen gab es in der Region bereits einige. In Mönchengladbach, Krefeld und Aachen, von Düsseldorf, Köln, Duisburg und Essen ganz zu schweigen. Und wenn man in die Niederlande blickt, von Kleve sind es zwölf Kilometer bis zur Grenze, warten dort schon die Hochschulen von Venlo, Nimwegen und Eindhoven.

Es musste also in der Tat etwas Besonderes sein, wenn man sich von all diesen Konkurrenten abheben wollte. Und da man sich gewissermaßen im Herzen Europas befand, nahe den Benelux-Staaten, einer wirtschaftlich sehr bedeutsamen Region, wo gleich mehrere Kulturen aufeinandertreffen und mehrere Sprachen gesprochen werden, war es naheliegend, auf Internationalität zu setzen.

So kommt es, dass von den heute rund 7.500 Studentinnen und Studenten der Hochschule Rhein-Waal über die Hälfte aus dem Ausland stammt und davon wieder etwa die Hälfte aus asiatischen Ländern. Das erklärt auch, warum die Unterrichtssprache bei drei Vierteln aller Studiengänge der Hochschule Englisch ist.

Doch diese für eine deutsche Hochschule in der Provinz erstaunliche Internationalität ist nicht die einzige Besonderheit. Das zweite Erstaunliche ist, dass man in Kleve und Kamp-Lintfort nicht die klassischen Fachbereiche vorfindet. „Jede Fakultät zeichnet sich durch Interdisziplinarität aus“, betont Oliver Locker-Grütjen, der Präsident der Hochschule. Und zählt sie auch gleich auf: Gesellschaft und Ökonomie, Kommunikation und Umwelt, Technologie und Bionik sowie Life Sciences. Keine Frage, Fachbereiche dieser Art findet man sonst nirgends in Deutschland. „Das war natürlich nur möglich, weil 2009 eine brandneue Hochschule gegründet wurde, die keiner Tradition verpflichtet war, bei der man alles neu denken konnte.“ Also durchaus vergleichbar mit einem Start-up, was die Hochschule damals ja auch war.

Das gefiel auch dem damaligen nordrhein-westfälischen Wissenschaftsminister Andreas Pinkwart, der die Hochschulgründung nach Kräften unterstützte. Nachdem er danach jahrelang Rektor der HHL Leipzig Graduate School of Management war, eine der besten Business Schools in Deutschand, und dort passenderweise die Fächer Innovationsmanagement und Entrepreneurship vertrat, sitzt der Ökonom und FDP-Mann jetzt als Wirtschaftsminister in der CDU/FDP-Regierung in Düsseldorf.

Obwohl heute 110 Dozenten und über 140 wissenschaftliche Mitarbeiter an der Hochschule tätig sind und die Belegschaft auf über 430 Mitarbeiter angewachsen ist, spürt man immer noch den Start-up-Geist und den Wunsch, etwas wirklich Neues zu versuchen. Das zeigt nicht nur der zum Wintersemester neu installierte Bachelorstudiengang „Verwaltungsinformatik — E-Government“, dessen Absolventen später bei der dringend notwendigen Digitalisierung der staatlichen Verwaltung mithelfen sollen. Was nicht bedeutet, dass sie nicht auch von der Wirtschaft mit Kusshand genommen werden. Auch viele andere Studiengänge machen das deutlich.

Beispielsweise der Bachelorstudiengang „Environment and Energy“, eine Kombination aus Umweltwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Informationstechnologie. Klingt sehr anspruchvoll und ist es auch. Genauso wie die Lösungen, die wir benötigen, um den Anforderungen gerecht zu werden, die die Energieversorgung schon heute und erst recht in der Zukunft an uns stellt. Zugleich ein gutes Beispiel für die Interdisziplinarität, die sich die Hochschule Rhein-Waal auf die Fahne geschrieben hat. Und damit nicht alles im Theoretischen versandet, gehört auch ein umfangreicher Praxisteil zu diesem Studiengang.

Dass man bei allem auch stets die Realität und vor allem die Praktikabilität im Auge hat, beweist unter anderem der Masterstudiengang „Usability Engineering“, den man eigentlich allen, die an Geräten oder Softwareprogrammen basteln, zwangsverordnen sollte. Sehr treffend heißt es bei der Erläuterung des Studiengangs auf der Website der Hochschule dann auch: „Nutzt Du schon, oder fluchst Du noch?“ Und weiter: „Wer kennt sie nicht, die alltäglichen Situationen, in denen uns Geräte oder Softwareprogramme — eigentlich gemacht, um uns das Leben zu erleichtern — schier verzweifeln lassen, weil sie kaum benutzbar oder extrem kompliziert zu bedienen sind?“ Womit klar ist, worum es bei diesem Studium geht: Menschen auszubilden, die uns von diesen Qualen befreien. Womit sie auch — und das ist nicht nur ironisch gemeint — einen Beitrag zur Volksgesundheit leisten. Denn Wut, Ärger und Frust schlagen bekanntlich aufs Gemüt. Vor allem wenn sie fast täglich von gruseligen Softwareprogrammen ausgelöst werden, von denen jeder heutzutage regelrecht umzingelt ist, ob er will oder nicht.

Man sieht — die Studiengänge der Hochschule Rhein-Waal haben eine ganz besondere Note. So auch der Masterstudiengang „International Management and Psychology“. Denn was bei „normalen Menschen“ geradezu zum Alltagswissen gehört, nämlich dass Psychologie die halbe Miete ist, ist bei vielen Ökonomen noch längst nicht angekommen. Etwa bei den hartleibigen Vertretern der neoklassischen Theorie, die den Homo oeconomicus bis heute für den Gipfel wirtschaftstheoretischer Erkenntnis halten. Tröstlich ist allerdings, dass ihnen von der Verhaltensökonomie (Behavorial Economics) in den letzten Jahren kräftig eingeheizt wurde. Und dass mit Daniel Kahneman ausgerechnet ein Psychologe 2002 den Wirtschaftsnobelpreis ergatterte, hob die Stimmung der Neoklassiker auch nicht gerade. Doch worum sich Theoretiker bis heute streiten, ist für Manager längst eine ausgemachte Sache: „Psychology counts!“ Umso mehr, wenn man es draußen in der Welt mit unterschiedlichsten Kulturen und Mentalitäten zu tun hat. Da heißt es dann oft sogar, die Produkte, die in der Heimat ein Renner sind, den Wahrnehmungen und Vorlieben der Menschen in fremden Welten anzupassen. All das und noch viel mehr lernt man bei diesem Studium. Was bei den Studiengängen anderer Hochschulen zum International Management keineswegs immer so umfassend geschieht.

Wie schlecht es der Touristikindustrie wegen Corona derzeit geht, steht in jeder Zeitung und in jedem News Portal. Was jedoch nicht bedeutet, dass sie erledigt ist. Bei weitem nicht. Experten rechnen damit, dass nach den Impfungen eine gewaltige Reisewelle losgehen wird. Die Reise-Fans scharren jetzt schon mit den Hufen. Sich die Welt anzusehen und andere Kulturen kennenzulernen, gehört zum modernen Menschen wie das Smartphone in der Hosentasche. Allerdings: Auch die Reisebranche befindet sich — unabhängig von Corona — in einem Transformationsprozess. Stichworte Overtourism, Airbnb, Kreuzfahrten, Umwelt- und Landschaftszerstörung, Zerstörung fremder Kulturen, Missachtung von Sozialstandards und vieles mehr. Die Lösung? Nachhaltiger Tourismus. Auch dazu bietet die Hochschule einen Studiengang, der sich genau mit diesen und vielen anderen Fragen beschäftigt. Das zeigt, dass man auch bei diesem wichtigen Thema — schließlich gehört der Tourismus weltweit zu den bedeutendsten Wirtschaftssektoren, vor allem in einigen Entwicklungsländern — stets den Finger am Puls der Zeit hat.

Wem ein reines Wirtschaftsstudium zu eintönig ist und wer es gern mit anderen Themen aufpeppen möchte, sollte sich den Bachelorstudiengang „International Relations“ ansehen. Die hier gebotene Kombination von Wirtschaft, Politik und Recht klingt in der Tat verlockend. Internationalität und Interdisziplinarität vermählen sich hier auf geradezu perfekte Weise. Und natürlich gehört der Studiengang zu denen, die auf Englisch durchgeführt werden. Wer das studiert, bekommt zudem Veranstaltungen geboten, die von Kommilitonen organisiert werden und Namen wie „Kleve Model United Nations“ und „Kleve Model African Union“ haben. Die große weite Welt ist auch am Niederrhein zu Hause. Was man nach diesem Studium machen kann? Sehr viel. Man kann sich bei nationalen und internationalen Organisationen bewerben, in die Politik- und Unternehmensberatung gehen oder zu Verbänden, Stiftungen, Parteien und NGOs. Vielleicht wird man auch Journalist oder Lobbyist.

Oder wie wäre es mit „Sustainable Development Management“. So lautet ein anderer Studiengang. Er befasst sich mit internationaler Wirtschaftspolitik und Entwicklungsökonomik. Internationalität und Interdisziplinarität sind also auch hier garantiert.

All das sind nur einige Studienangebote von vielen. Ein Blick auf die Website der Hochschule lohnt also. Den einen oder die andere dürfte sie auf ganz neue Ideen bringen. Und natürlich kann man auch im Ausland an einer Partnerhochschule studieren, obwohl das momentan wegen Corona sehr eingeschränkt ist.

Was steht in der Zukunft an? „Abgesehen davon, dass wir immer offen für neue Studiengänge sind, die zu unserem speziellen Hochschulprofil passen und die einen spannenden Berufsweg versprechen, wollen wir noch mehr junge Menschen aus der Region, aber auch aus Europa, gewinnen“, meint Oliver Locker-Grütjen. Das dürfte für seine ungewöhnliche Hochschule ein Leichtes sein.

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