Der Ordoliberalismus und seine Entwicklung

Prof. Dr. Lars P. Feld / Dipl.-Volksw. Heiko T. Burret / Dipl.-Volksw. Ekkehard A. Köhler, Freiburg

Der Ordoliberalismus ist eine neoliberale Denkschule, die Ende der zwanziger  Jahre entstand. Hier wird die Entstehungsgeschichte des Ordo- und Neoliberalismus nachgezeichnet. Dabei wird auch auf die Kritik am Ordoliberalismus eingegangen.

I. Begriffsbestimmung
Der Ordoliberalismus beruht auf zwei konstitutiven Elementen, die darauf ausgerichtet sind, die Errichtung einer freiheitlichen staatlichen Ordnung zu fördern und zu sichern. Das erste Element folgt der ordoliberalen Wettbewerbsvorstellung, wonach der Markt eine staatliche Veranstaltung ist und einer langfristig wirksamen Wirtschaftsordnung bedarf, die den Wettbewerb in gesamtwirtschaftliche sinnvolle Bahnen lenkt. Das zweite Element folgt dem ordoliberalen Staatsverständnis, dass der Staat im Sinne einer „ordnenden Potenz“ in der Lage sein muss, die Wirtschaftsordnung gegen Einflüsse von Interessen- oder Machtgruppen abzuschirmen und wirksam zu gestalten. Im Mittelpunkt beider Element steht das konstitutive Prinzip, dass der Markt und der Staat allein dem Bürger verpflichtet sind und ausschließlich seinem Interesse zu dienen haben. Mit dieser individualistischen Ausrichtung zielt der Ordoliberalismus darauf ab, eine freiheitliche Ordnung mit dem Bürger und Konsumenten als Souverän herzustellen, in welcher der Einfluss von Macht- und Interessengruppen systematisch beschränkt wird.

II. Entstehung und Anliegen des Ordoliberalismus
Der Ordoliberalismus entstand Ende der zwanziger Jahre an der staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg aus einer rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsgemeinschaft, die von dem Nationalökonomen Walter Eucken (1899 - 1950) und den Rechtswissenschaftlern Hans Großmann-Doerth (1894 - 1944) und Franz Böhm (1895 - 1977) gegründet wurde („Freiburger Schule“). Gemeinsamer Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass die Wirtschaftsordnung der Weimarer Republik zusehends von Interessengruppen und Kartellen vermachtet wurde und so nicht mehr den Bürgern, sondern den Interessen Dritter diente: Rechtlich anerkannte Kartellvereinbarungen, staatlich tolerierte Banken- und Unternehmenskonzentrationen sowie monetäre Krisen und eine fallweise unstete Wirtschaftspolitik waren mit dem ordoliberalen, freiheitlichen Grundgedanken der Wirtschaftsverfassung unvereinbar (vgl. Eucken 1932, 1940, 1952). Für diese Entwicklung wurden staatliche, politische und private Macht- und Interessengruppen verantwortlich gemacht. Böhm warnte vor einer „Refeudalisierung“ der Gesellschaft, da die Interessengruppen laufend in den Genuss von Privilegien kamen und so schließlich das freiheitliche System aushebelten (vgl. Böhm).

1. Das Ziel: Abkehr vom Laissez-faire
Besondere Kritik galt dem Ordnungstyp der „reinen“ Marktwirtschaft, weil der Ordnungsrahmen hier dem Laissez-faire-Prinzip folgte und allein den privaten Wirtschaftssubjekten überlassen wird. Dabei wird die Rolle des Staates auf das Notwendigste beschränkt. Ein Staatsverständnis, das oft als „Nachtwächterstaat“ umschrieben wird. Da eine solche uneingeschränkte Freiheit zu ihrer Auflösung bzw. dazu führt, dass Interessengruppen die Kontrolle übernehmen, sahen die Ordoliberalen in der freien Marktwirtschaft eine inhärente Tendenz zur Unfreiheit. Eine Zentralverwaltungswirtschaft kam wegen ihrer systematischen Nachteile jedoch nicht in Betracht. Damit schieden die beiden prinzipiellen Alternativen bei der Lösung des Ordnungsproblems aus, mit dem sich Böhm, Eucken und Großmann-Doerth in ihrem 1936 erschienenen Aufsatz „Unsere Aufgabe“ an die Öffentlichkeit wandten.

Stattdessen sollten die konstituierenden Regeln des Staates und des Marktes so geändert werden, dass einerseits der Wettbewerb nutzbar gemacht werden kann, und andererseits seine Nachteile vermieden werden. Dieser regelorientierte Lösungsansatz wurde zum Markenzeichen der Freiburger Schule bzw. des Ordoliberalismus: Während der Staat für den Ordnungsrahmen zu sorgen hatte, sollte sich der Markt innerhalb dieses Ordnungsrahmens frei entfalten können. Staatliche Planung der Ordnung — ja, staatliche Lenkung des Wirtschaftsprozesses — nein. So lautete die Losung Euckens, die die Idee der Ordnungspolitik zusammenfasst.

2. Die dreißiger Jahre — die Krise des Liberalismus und seine Wandlung zum Neoliberalismus
Die Idee, den Laissez-faire-Liberalismus zu reformieren, war kein deutscher Sonderweg. Die Ereignisse der dreißiger Jahre lösten in vielen Ländern eine öffentliche Diskussion aus, da angesichts einer stagnierenden Weltwirtschaft, vagabundierender Krisen und der Ausweitung der faschistischen und kommunistischen Systeme mit dem Niedergang der freiheitlich-individualistischen westlichen Welt zu rechnen war.

Vor diesem Hintergrund stellte Walter Lippmann in seinem 1937 erschienenen Buch „The Good Society“ die provokante These auf, dass der Liberalismus dem Kollektivismus letztlich unterlegen sei. Aufgrund der Resonanz, die das Buch auslöste, versammelten sich renommierte Liberale im August 1938 in Paris, um im Rahmen des Colloque Lippmann über die Erneuerung bzw. Reformbedürftigkeit des Liberalismus zu diskutieren. Dabei wurde insbesondere auf die Probleme des Laissez-faire-Prinzips und die Krisen seit den zwanziger Jahren eingegangen, die in Freiburg bereits zum  Ordnungsgedanken geführt hatten. Man zog jedoch unterschiedliche Schlussfolgerungen: Während einige von der Notwendigkeit eines „Neo-Liberalismus“ bzw. eines „libéralisme de gauche“ sprachen und damit den Liberalismus neu ausrichten und staatlich verfasst wissen wollten, forderten die österreichischen Teilnehmer, dass der Liberalismus in seiner klassischen Ausprägung bereits alles enthalte und eine weitere Reform unnötig sei. Die Freiburger nahmen nicht an dem Treffen teil. Die einzigen deutschen Teilnehmer, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, reisten aus ihrem Exil an.

Damit wurde das Colloque Lippmann in zweierlei Hinsicht für die Weiterentwicklung des Liberalismus wegweisend:

- Zum einen war es die Geburtsstunde des Begriffs „Neoliberalismus“, eine Wortschöpfung von Alexander Rüstow, die sich gegen andere Alternativen durchsetzen konnte und in bewusster Abgrenzung zum Laissez-faire-Liberalismus gewählt wurde.
- Zum anderen war es die Vorentscheidung zum österreichischen Sonderweg, der später zur Spaltung des liberalen Lagers führte — in eine homogene „alt-liberale“ Bewegung um Ludwig v. Mises und die „American Austrians“ sowie in eine „neo-liberale“ angelsächsisch-europäische Bewegung, zu der die deutschen Ordoliberalen zu zählen sind. Aufgrund der Eigenständigkeit der von den einzelnen Denkern entwickelten Konzepte ist ihre Zuordnung zu den verschiedenen neoliberalen Schulen nicht immer eindeutig. Das Beispiel Friedrich August v. Hayeks veranschaulicht, dass sie — sofern überhaupt möglich — meist von der jeweiligen Zeitspanne abhängt. So studierte und lehrte v. Hayek zwar in Wien, ging dann aber nach London und Chicago und nahm 1962 einen Ruf an die Universität Freiburg an. Kurze Zeit später wurde er zum Vorstand des Walter Eucken Instituts gewählt (vgl. Hampe).

3. Die neoliberale Bewegung
In Anbetracht des Anliegens und der Entstehung der Freiburger Schule war das Colloque Lippmann weder Gründungsort noch Ausgangpunkt dieser „neo-liberalen“ Bewegung. Bereits zu Beginn der dreißiger Jahre war an der Universität Chicago eine andere Forschungsgemeinschaft um Henry Simons und Frank Knight entstanden, die sich ebenfalls mit der Neuausrichtung der liberalen Wirtschaftspolitik befasste. Obwohl sie nur indirekt Kontakt miteinander hatten, standen die Freiburger den Forderungen dieser „Alten Chicagoer Schule“ in wettbewerbs- und geldpolitischer Hinsicht erstaunlich nahe. In Freiburg und Chicago wollte man das Geschäftsbankensystem durch hundert Prozent Mindestreserven und eine strikte Trennung von Giral- und Investmentbanken regulieren. Die Zentralbank sollte zudem an einen automatischen Geldpolitik-    Mechanismus der Waren-Reserve-Währung gebunden werden, um eine übermäßige Geldmengenerhöhung und fallweise Geldpolitik zu unterbinden. Mit dieser regelgebundenen Neuordnung des Bankensystems folgten beide Schulen der Idee, bei der Geldordnung soweit wie möglich auf weitreichende diskretionäre Elemente zu verzichten. Bei der Wettbewerbspolitik plädierten beide Denkrichtungen für die Zerschlagung wirtschaftlicher Macht.

Die Ordoliberalen verloren spätestens ab Kriegsbeginn 1939 den internationalen Anschluss. Ohnehin wurde ihnen die Beschäftigung mit ihrem Forschungsprogramm durch die Nationalsozialisten erschwert. Die mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus erstarkende „völkische Wirtschaftslehre“, die auf der zentralen Planung aufbaute und das Geld- und Kreditsystem in ihren Dienst stellte, war der Freiburger Idee nicht nur diametral entgegengesetzt, sondern avancierte auch zur herrschenden Lehrmeinung an deutschen Universitäten (vgl. Schiller). So beschränkten sich die Freiburger und ihre Schüler entweder auf theoretische Diskussionen, suchten sich andere Berufe (Hans Otto Lenel, Leonhard Miksch) oder emigrierten (Friedrich Lutz). Eucken und Böhm entschieden sich anlässlich der Reichspogromnacht 1938 für eine oppositionelle Tätigkeit, die im Verlauf des Krieges zur aktiven Unterstützung der Widerstandsgruppe um Goerdeler und Bonhoeffer führte. Die Kritik von Ptak, der Widerstand der Ordoliberalen im Dritten Reich sei lediglich eine Legende, stattdessen habe man mit dem NS-Regime kooperiert (vgl. Ptak), ist widerlegt.

Das ordoliberale Gedankengut in den Widerstandskreisen wurde zum Grundstein der Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit (vgl. Goldschmidt). In der Stunde Null der sozialen Marktwirtschaft waren es die Freiburger Ideen, die insbesondere durch Leonhard Miksch, der als leitender Mitarbeiter von Ludwig Erhard die Währungsreform im Juni 1948 mit dem Leitsätzegesetz zur Preisfreigabe verband, maßgeblichen Einfluss auf die neue Wirtschaftsordnung nahmen und somit zum Erfolg der sozialen Marktwirtschaft beitrugen. Das ordoliberale Anliegen, einen dritten Weg zwischen Markt- und Planwirtschaft zu suchen, fand Widerhall bei Ludwig Erhard, der mehrere ordoliberal orientierte Wirtschaftsfachleute in seinen ersten wissenschaftlichen Beirat berief. Rückblickend auf die Zeit des „Wirtschaftswunders“ beschrieb Erhard den Einfluss der Ordoliberalen 1961 so: „Wenn nämlich jemals eine Theorie die Zeichen der Zeit richtig zu deuten wusste und einer ihren Erkenntnissen gemäßen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik neue Impulse gab, dann waren es die Gedanken der Männer, die heute als Neo- oder Ordoliberale gelten. Sie haben der Wirtschaftspolitik immer mehr gesellschaftspolitische Akzente verliehen und sie aus der Isolierung eines mechanistisch-rechenhaften Denkens gelöst“ (vgl. Ehrhard).

Die zweite Generation der Chicagoer Schule verabschiedete sich nach dem Krieg von den strikten Regulierungen, die die Alte Chicagoer Schule zur Wiederherstellung einer stabilen Wirtschaftsordnung gefordert hatten. Schließlich hatten sich die wirtschaftspolitischen Probleme durch die Konsolidierung der westlichen Welt im Bretton Woods System grundlegend geändert. Die zweite neoliberale Generation befasste sich mit den Problemen, die in individualistischen Systemen entstanden. So lag der Schwerpunkt in den sechziger Jahren bei geldpolitischen und außenwirtschaftlichen Fragen. Ihnen wurde mit einer Flexibilisierungs- bzw. Öffnungsstrategie begegnet. Insbesondere Milton Friedman, Herbert Giersch und der ehemalige Eucken-Schüler Friedrich Lutz berieten die Politik. Diese Entwicklung verhalf unter anderem der Deutschen Mark zu ihrem internationalen Erfolg, da die Bundesbank relativ früh aus dem Bretton- Woods-Standard ausscherte und zu flexiblen Wechselkursen überging. Zudem führte der Abbau von Handelsbarrieren zu einer stärken ökonomischen Integration und steigendem Wohlstand in der westlichen Welt.

In den siebziger Jahren nahmen die wirtschaftlichen Probleme des Westens — insbesondere durch das Wiederaufflammen der Inflation und der Arbeitslosigkeit — zu. Die Neoliberalen empfahlen, die Geldpolitik nicht in den Dienst der Beschäftigungspolitik zu stellen. Empirische und theoretische Erkenntnisse, insbesondere auf dem Gebiet der Neuen Institutionenökonomik, legten dies nahe. Gleichzeitig sprachen sie sich dafür aus, die aufgeblähten Staatssektoren sukzessive abzubauen, indem sich der Staat aus der Wirtschaft herauszieht. Wie bereits früher waren es wieder politökonomische Gründe und die Gefahr, dass Interessengruppen die Kontrolle übernehmen, weshalb sich der Staat aus der Umklammerung durch private Sonderinteressen lösen sollte.

III. Kritik
Der Neoliberalismus beruht nicht auf einer einheitlichen Konzeption und unterscheidet sich zudem vom Ordoliberalismus, was bei der Kritik berücksichtigt werden muss.

Kritiker des Neoliberalismus und der Globalisierung erheben meist den Vorwurf, dass eine neoliberale Wirtschaftspolitik zur Machtkonzentration führe und die Interessen der Wirtschaft und der gesellschaftlichen Eliten über das Gemeininteresse stelle. Der Neoliberalismus wird dabei häufig als eine Ideologie bezeichnet, die auf den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und die Deregulierung zugunsten eines Marktdogmas setzt. Die Kritiker gehen vom Versagen der Marktwirtschaft aus und fordern einen verstärkten Staatsinterventionismus.

Neben dieser generellen Kritik wird die Verfolgung neoliberaler Politik durch die Weltbank und insbesondere den Internationalen Währungsfonds (IWF) beklagt. Da der IWF Kredite nur gegen die Umsetzung eines Anpassungsprogramms entsprechend dem  Washington Consensus gewähre, müssten sich die Nehmerländer zu einer Wirtschaftspolitik verpflichten, die zum Teil nicht von den nationalen demokratischen Instanzen legitimiert sei. Die Strukturreformen würden von der Mehrheit der Industrienationen gefordert und enthielten „das gesamte ABC neoliberaler Umstrukturierung von Staaten“ und suspendierten „faktisch jegliche selbstbestimmte Politik“ (vgl. Lösch, S. 263).

Der Neoliberalismus wird meist unter Bezug auf Reaganomics und Thatcherismus, die angelsächsischen Wirtschaftspolitik seit Ende der siebziger Jahre, kritisiert. Diese Politik wurde jedoch eher von Interessengruppen und der Neuen Chicagoer Schule als durch den deutschen Ordoliberalismus geprägt.

Der Ordoliberalismus betont vielmehr die Notwendigkeit eines starken Staates und eines klaren Ordnungsrahmens, der die Märkte reguliert und in dem der Bürger der Souverän ist. Nicht anders als die Kritiker wollen die Ordoliberalen Machtkonzentration unterbinden und eine Gesellschaft gleichberechtigter Bürger schaffen. Dabei folgen sie nicht blind einem Marktparadigma, sondern sehen im Wettbewerb „das genialste Entmachtungsinstrument“ (vgl. Böhm 1961).

Die Forschungsrichtung Public Choice erkennt im Marktmechanismus und Wettbewerb Vorteile gegenüber staatlichen Eingriffen, da eigeninteressiertes, d.h. an der Wiederwahl orientiertes Handeln der politischen Akteure zu Staatsversagen führen kann. Dem Vorwurf des Marktparadigmas widersprechen zudem empirische und weitere theoretische Befunde zu den Institutionen der Marktwirtschaft. Demnach stellen diese die günstigsten Koordinationsmechanismen bei der Realisierung wechselseitiger Vorteile aus freiwilligen Tauschaktivitäten dar (vgl. Voigt 1997, 2011; Kirchgässner 2009; Vanberg; Feld/Köhler).

Wettbewerb ist jedoch mit Kosten verbunden. Sie zu vermeiden, gilt oft als Grund für  Unternehmensfusionen. Wird deshalb gefordert, den Wettbewerb auszuschalten, so wird übersehen, dass dieser evolutorisch bedingt ist und sich damit nicht leicht abschalten lässt. Seine Unterdrückung an einer Stelle führt häufig dazu, dass er an anderer Stelle wieder auftaucht und möglicherweise höhere Kosten verursacht (vgl. Kirchgässner 2009). Ein Beispiel waren die vielen Schwarzmärkte in den kommunistischen Staaten.

Im Gegensatz zu den Vertretern extremer Positionen wie Friedman (vgl. Friedman) oder Hoppe (vgl. Hoppe), sind die Ordoliberalen nicht der Auffassung, dass die Gesellschaft allein marktwirtschaftlichen Regeln folgen soll. Damit die marktwirtschaftlichen Institutionen, insbesondere der Wettbewerb, funktionsfähig bleiben und nicht von Interessengruppen unterlaufen werden, bedarf es — wie bereits gesagt — eines starken Staates, der nicht nur klare Regeln schafft, sondern diese auch durchsetzt.

Die ordoliberale Forderung eines „starken Staates“ wird von Kritikern häufig als „totaler Staat“ karikiert, der versucht, alle Lebensbereiche der Bürger zu kontrollieren. Dem Ordoliberalismus geht es jedoch um einen Staat, der die Wirtschaft klaren Regeln unterwirft und so für eine privilegienfreie Ordnung sorgt.

Der Stärkung der Souveränität der Bürger und damit des Gemeininteresses sowie der Abwehr von Sonderinteressen können auch direktdemokratische Institutionen, z.B. Volksbefragungen, dienen (vgl. Kirchgässner 1988). Auf diese Weise können Deregulierungen und Privatisierungen abgelehnt werden (vgl. Feld/Kirchgässner, S. 259 ff.), wenn die Bürger dem Staat als Kontrolleur das Vertrauen aussprechen und dem Markt eine Absage erteilen. Mit einem am Bürgerinteresse ausgerichteten Neoliberalismus wie dem deutschen Ordoliberalismus steht dies nicht in Konflikt. Damit vereinbaren sich die Forderungen der Kritiker, der Machtübernahme durch Interessengruppen entgegenzuwirken und eine Gesellschaft gleichberechtigter Individuen zu schaffen, mit dem neoliberalen Freiburger Programm.

Die verfehlte Kritik am Neoliberalismus bzw. der Umstand, dass die Forderungen der Kritiker mit den Zielen des Ordoliberalismus in Einklang stehen, lässt sich auch anhand der jüngsten Krisen zeigen. So wird der Neoliberalismus von einigen Kritikern für die Deregulierungen, die für die Banken- und Finanzkrise mitverantwortlich sind, haftbar gemacht. Die nachlässige und zum Teil unwirksame Bankenregulierung, die Ausnahme von der Unterlegungspflicht mit Eigenkapital bei Staatsanleihen oder die Existenz von Staatsbanken entsprechen nicht dem ordoliberalen Forschungsprogramm. Ganz im Gegenteil verdeutlichen die Krisen, dass ein am Gemeininteresse ausgerichteter klaren Regelungsrahmen und ein „starker Staat“ notwendig sind — genauso, wie es der Ordoliberalismus fordert. Würde eine solche Ordnung bestehen, hätte sie es den betreffenden Interessengruppen erheblich erschwert oder unmöglich gemacht, Sondervorteile — etwa in Form zu schwacher Regulierungen — zu erwirken.

IV. Traditioneller und moderner Ordoliberalismus
Abgesehen von den Missverständnissen, die bei Kritikern des „Neoliberalismus“ herrschen, bleibt ein prinzipielles Problem bestehen: Die traditionellen ordoliberalen Ansätze weisen nicht in ausreichendem Maße auf die notwendige Zustimmung durch die Bürger hin. Hier ist der von Kirchgässner erhobene Einwand eines scheinbar überlegenen Wissens und eines krypto-normativen Gehalts einzuordnen (vgl. Kirchgässner 1988).

Die Forderung der Ordoliberalen nach einem „starken Staat“ ist zudem nicht unproblematisch, weil sie sich den Vorwurf einer idealisierten Staatsvorstellung gefallen lassen muss. Der Ordoliberalismus in seiner traditionellen Prägung mutet dem Staat viele Aufgaben zu, die sich institutionell nur schwer erreichen und langfristig durchhalten lassen. Wenn der Staat als „ordnende Potenz“ in der Lage sein soll, den Ordnungsrahmen so zu gestalten, dass der Wirtschaftsprozess in die gewünschten Bahnen gelenkt wird, fragt sich, wie eine wünschenswerte Ordnung überhaupt aussieht und wie sie legitimiert ist. Damit steht der Ordoliberalismus vor einem Legitimations- und Gestaltungsproblem, das von seinen Vertretern und deren Nachfolgern, den Vertretern des traditionellen Ansatzes der Ordnungsökonomik, nie völlig gelöst wurde (vgl. Feld/Köhler). Vielmehr suggerierte die ordnungspolitische Renaissance in den achtziger Jahren, dass dieses Problem mit einer Rückkopplung an die konstituierenden und regulierenden Prinzipien der Wettbewerbsordnung zu lösen sei.

Darüber entzündete sich ein Streit über die Werturteilsfreiheit. Auf der einen Seite standen die Vertreter der deutschsprachigen Varianten der Public-Choice-Theorie, der Neuen Politischen Ökonomik und der Verfassungsökonomik — auf der anderen die Verfechter des traditionellen Ansatzes der Ordnungsökonomik. Mit langer Verzögerung wurde dieser schwelende Konflikt auch beim „jüngsten Methodenstreit“ (vgl. Vaubel) ausgetragen, was zu der Einsicht führte, dass eine moderne Ordnungsökonomik die Frage der Gestaltung und die Frage der Legitimation einer wünschenswerten Ordnung trennen müsse. Empirische Untersuchungen erleichtern die Erörterung der Frage, welche Institutionen in der Lage sind, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

Die Frage, wie das Ziel zu legitimieren ist, ist grundsätzlich an die normativ-individualistische Grundausrichtung der Ordnungsökonomik gebunden: Allein das Interesse und die freiwillige Zustimmung der Betroffenen liefern hier die prinzipielle Legitimation. Da diese Forderung nur schwer institutionell gestaltet werden kann, versucht die moderne Ordnungsökonomik, sich ihr mithilfe von Steuerungsidealen wie Bürgersouveränität und Konsumentensouveränität zu nähern. Die Tatsache, dass politische Institutionen bestehen, die partizipationsfördernd eingesetzt werden können und langfristig die Reagibilität der Ordnung auf variierende Bürgerinteressen erhöhen, hilft bei diesem Problem ebenso wie eine Verfassung, die dem Bürger die Rolle als Subjekt des Staates und des Marktes zusichert, womit ein Vorrang des Bürgerinteresses gegen-über Partikular- und Sonderinteressen auf höchster Ebene besteht. Daher macht sich die moderne Ordnungsökonomik für eine stärke Beteiligung des Bürgers innerhalb der Demokratie sowie für disziplinierende Elemente innerhalb der demokratischen Grundordnung stark.
Abschließend sei festgehalten, dass es auch ein Verdienst des Ordoliberalismus traditioneller Prägung ist, mit dem Hinweis auf die Gefahr der „Refeudalisierung“ früh auf das Rent-Seeking-Problem in der Demokratie aufmerksam gemacht zu haben.

Der alte Ordoliberalismus griff auch dem institutionellen bzw. regelorientierten Problemlösungsansatz vor, der erst in den späten sechziger Jahren entwickelt und mit der Public-Choice-Theorie in den siebziger Jahren allgemein bekannt wurde. Mit der modernen Ordnungsökonomik erfährt dieser Denkansatz seine Weiterentwicklung — unter Beachtung des Gebots der Werturteilsfreiheit und bei konsequenter Einhaltung des normativen und methodologischen Individualismus.

Literatur:
Böhm, F.: Demokratie und ökonomische Macht. In: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.): Kartelle und Monopole im modernen Recht. Karlsruhe 1961, S. 1 - 24.
Böhm, F.: Wettbewerbsfreiheit und Kartellfreiheit. In: Böhm F./Lutz F.A./Meyer F.W. (Hrsg.): Ordo, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 10 (1958), S. 167 - 203.
Böhm, F./Eucken, W./Großmann-Doerth, H.: Unsere Aufgabe. In: Böhm, F.: Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung. Ordnung der Wirtschaft 1, Stuttgart/Berlin 1937, S. VII - XXI.
Erhard, L.: Gestern — Heute — Morgen. In: Hohmann, K. (Hrsg.): Ludwig Erhard — Gedanken aus fünf Jahrzehnten, München 1990, S. 684 - 704.
Eucken, W.: Grundlagen der Nationalökonomie. 7. Auflage, Berlin et al. 1959.
Eucken, W.: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Tübingen 1952.
Eucken, W.: Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus. In: Weltwirtschaftliches Archiv, 36. Jg. (1932), S. 297 - 321.
Feld, L.P./Kirchgässner, G.: Die Rolle des Staates in privaten Governance Strukturen. In: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik 139 (2003), S. 253 - 285.
Feld, L.P./Köhler, E.A.: Ist die Ordnungsökonomik zukunftsfähig? In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik ,12. Jg. (2011), S. 173 - 195.
Friedman, D.: Anarchy and Efficient Law. In: Sanders, J./Narveson, J. (Hrsg.): For and Against the State, Rowman and Littlefield, Lanham 1996. www.daviddfriedman.com/Academic/Anarchy_ and_Eff_Law/Anarchy_and_Eff_Law.html.
Goldschmidt, N.: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft —  Das gleichnamige Buch von Ralf Ptak kritisch betrachtet. In: ORDO 56 (2005), S. 319 - 324.
Hampe, P.: Neoliberalismus. In: Ifo Schnelldienst, Heft 9 (2010), S. 13 - 16.
Hoppe, H.-H.: Democracy, the God that Failed: The Economics and Politics of Monarchy, Democracy and Natural Order. New Brunswick, NJ. 2001.
Kirchgässner, G.: Wirtschaftspolitik und Politiksystem. Zur Kritik der traditionellen Ordnungstheorie aus der Sicht der Neuen Politischen Ökonomie. In: Cassel, D./Ramb, B.-T./Thieme, H.J. (Hrsg.): Ordnungspolitik, München 1988, S. 53 - 75.
Kirchgässner, G.: Die Krise der Wirtschaft: Auch eine Krise der Wirtschaftswissenschaften? In: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 10 (2009), S. 436 - 468.
Lippmann, W.: The Good Society. Boston 1937.
Lösch, B.: Die neoliberale Hegemonie als Gefahr für die Demokratie. In: Butterwegge, C./Lösch, B./ Ptak, R. (Hrsg.): Kritik des Neoliberalismus, 2. Aufl., Wiesbaden 2009, S. 221 - 283.
Ptak, R.: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland. Opladen 2004.
Schiller, K.: Arbeitsbeschaffung und Finanzordnung in Deutschland. Berlin 1936.
Vanberg, V.J.: Liberal Constitutionalism, Constitutional Liberalism and Democracy. In: Constitutional Political Economy 22 (2011), S. 1 - 20.
Vaubel, R.: Rettet die Volkswirtschaftslehre an den Universitäten: Zum Aufruf der 83 VWL-Professoren. In: Caspari, V./Schefold, B. (Hrsg.): Wohin steuert die ökonomische Wissenschaft? Ein Methodenstreit in der Volkswirtschaftslehre, Frankfurt a.M. 2011, S. 269 - 273.
Voigt, S.: Positive Constitutional Economics II — A Survey of Recent Developments. In: Public Choice Vol. 146 (2011), S. 205 - 256.
Voigt, S.: Positive Constitutional Economics — A Survey. In: Public Choice 90 (1997), S. 11 - 53.

(aus WISU 6/12, S. 846 - 852)